Dokumentarfilm, Deutschland 2024
Die queere Industrietechnikerin und Betriebsrätin Lotti bringt frischen
Wind in die Stahlbude von Thyssenkrupp in Gelsenkirchen. Aber sie ist noch immer die einzige Frau im Betrieb.
Sie setzt sich für die grüne Transformation ein und organisiert mit der IG-Metall-Jugend zum 1. Mai eine Aktion gegen den Rechtsruck in der Region. Doch die bestehenden Verhältnisse in der Fabrik geraten ins Wanken und privat hat Lotti Sorgen.
An einem Freitagvormittag stehen die Anlagen in der Stahlbude am Schalker Markt für Wartungsarbeiten still. Ann Catherine Meyer (27), die alle mit ihrem Spitznamen "Lotti" ansprechen, führt einen Rollenwechsel an der Streifenschere durch, wo das hauchdünn beschichtete Elektrostahlband nach Kundenwunsch zugeschnitten wird.
Eigentlich könnte es nicht besser laufen. Nach vier anstrengenden Jahren im Schichtbetrieb und an der Abendschule hat Lotti endlich den Techniker-Titel in der Tasche und ist bei Thyssenkrupp zu ihrem Traumjob aufgestiegen. Dort setzt sie sich - seit ihrer Wahl in den Betriebsrat - für die grüne Transformation des Betriebs ein. Die hier produzierten Stahlrollen bilden den Kern von Hochleistungs-Trafos und sind damit essentiell für die Mobilitätswende. Und ohne den Umstieg auf grünen Stahl hat die deutsche Stahlindustrie keine Zukunft.
Am Gelsenkirchener Standort des kriselnden Konzerns hat Lotti auch nach sechs Jahren in der Produktion ausschließlich männliche Kollegen. Mit ihnen teilt sie gerne das technische Interesse und die Leidenschaft für ihren Beruf, aber auf das Label "einzige Frau" hat sie schon lange keine Lust mehr. Die Medien und das firmeneigene Marketing feiern sie als Vorbild für Gleichstellung, anstatt sich um weiteren weiblichen Nachwuchs zu bemühen.
Seit der überraschenden Übernahme von Thyssenkrupp Electrical Steel durch einen tschechischen Investor steht die Zukunft des Betriebs auf dem Spiel. Der Bau des Wasserstoff-Hochofens in Duisburg, den der Bund mit einer Rekordsumme von zwei Milliarden Euro subventioniert, verzögert sich. Auch privat steht bei Lotti alles Kopf. Ihr Vater ist unheilbar an Krebs erkrankt. Während die Betriebsrätin zwischen Beruf, Politik und queerem Lebensentwurf jongliert, überschlagen sich rund um den 1. Mai die Ereignisse.
Die Umgebung des Stahlbetriebs scheint in einer anderen Zeit stehen geblieben zu sein, aber Lotti ist mit ihr tief verbunden. Aus Lottis Umfeld kam immer wieder die Frage: "Warum tust du dir denn so einen Job an? Musst du wirklich ausgerechnet in so ein Hardcore-Umfeld?" Lotti hat ihren Beruf nicht gewählt, weil sie "die einzige" sein wollte. Das Problem liegt in der Frage. "Stahlarbeiterin" erzählt Lottis Erfahrung deshalb nicht als Widerspruch, sondern als gelebte Wirklichkeit, in der ein junger, politisch aktiver Mensch voller Visionen auf eine anachronistische Umgebung stößt.
Durch Lottis Augen erleben wir die komplexe Schnittstelle von persönlicher Identität, industriellem Erbe und sozialem Wandel. Ihre Geschichte ist ein Mikrokosmos der Herausforderungen, mit denen wir in Deutschland heute konfrontiert sind - der Kampf für ökologische Nachhaltigkeit, der Einsatz für Geschlechtergerechtigkeit, der Widerstand gegen rechtsextreme Strömungen und die sozialen Kosten wirtschaftlicher Umbrüche.
Während Lotti privat und beruflich durch schwierige Zeiten steuert, zeigt sie sich als komplexe Figur - die entschlossen ist, einen neuen Weg zu beschreiten und die nicht nur für ihre eigene Zukunft, sondern auch für die Zukunft ihrer Gemeinschaft kämpft. Durch Lottis Geschichte wirft die Autorin Lea Schlude Fragen der Gleichberechtigung, Nachhaltigkeit und sozialen Gerechtigkeit in Räumen auf, die sich lange gegen Veränderungen gesperrt haben. Lotti gestaltet Strukturwandel - in jeder Hinsicht.
Lea Schlude hat Film und Philosophie an der Universität in Hildesheim, der Universidade Federal do Parà in Belem, Brasilien und an der Freien Universität Berlin studiert. Ihr erster Dokumentarfilm "Via San Cipriano" (2019) wurde auf internationalen Festivals ausgezeichnet. Für die Recherche für ihren zweiten langen Dokumentarfilm "Hazy Valley" erhielt sie das Wim-Wenders-Stipendium.
3sat zeigt den Film als Erstausstrahlung im Rahmen der neuen 3sat-Dokumentarfilmreihe "DocuMe", die von Menschen in Veränderungsprozessen erzählt und mit Erzählformen abseits des medialen Mainstreams experimentiert.
Regie | Lea Schlude |